Die soziale Marke


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BRAND ALIVE! Markenpraxis im Digitalen Zeitalter, oder: Die soziale Zukunft der Marke

1. Selbstbildnis mit Brandzeichen

Mit dem grünen Band der Sympathie umwickeln wir das Original seit 1873 und reisen mit Freude am Fahren in das Land von Freiheit und Abenteuer. Wir sind alle gezeichnet. Marken sind industrielle Warenzeichen? Sie sind Garant für Qualität? Dass ich nicht lache. In Marken konsumieren wir den verselbständigten Fetischcharakter der Ware? Mit Verlaub, auch Theo Adorno trivialisiert die Sache. Alles nur ein Traum, eine kapitalistische Deformation? Wer Marken begehrt, sollte zum Arzt gehen? Ich glaube nicht, dass das die Kasse bezahlt. Sonst käme unser Gesundheitssystem endgültig zum Kollaps.

Zwischen Diskreditierung und Glorifizierung springt das Bild der Marken, zwischen Manipulationsvieh und Triebtäter das ihrer Kunden. Das ist natürlich alles unwirklich. Was ist wirklich? Menschen sind schlauer als Markenführer sie sich ausmalen, glauben der Werbung weder Wort noch Bild und kaufen die Marke trotzdem. Menschen zeigen mit dem Finger auf das Auto des neuen Nachbarn weil Fordfahren in dieser Gegend einfach etwas Anderes bedeutet. Menschen lieben die Form der kleinen Colaflaschen, die früher aus den Automaten kamen, und kaufen deshalb heute Fritz-Cola.

Das ist alles wirklich. Deshalb faszinieren mich Marken und deshalb arbeite ich so gern mit ihnen. Leider wird die Wirklichkeit immer weniger eingelassen in die Welt der Markenmanager, wird tapeziert mit schlechten Witzen und kriegt Tortendiagramme ins Gesicht.

Dabei sind dies die ersten Zeiten, in denen man es problemlos anders machen, Fenster und Türen aufreißen und sehen und hören könnte. Die Pseudowissenschaft Marketing muss wegen miserabler Leistungen nochmal in der Grundschule des Lebens anfangen und dreitausenfünfhundert Mal am Tag “niemand ist ein Konsument” schreiben.

Ja, das ist der Grund warum ich noch genug Hoffnung sehe um mich hinzusetzen und zu schreiben. Marketing isn’t working, Hurra, es wird also eine Zeit danach geben. Zuerst haben sich die Werber an die Psychologen gewandt, weil die Korrelation zwischen Input und Output bei dieser verflixten Black Box Käufer nicht hinhauen wollte. Inzwischen hat sich daraus eine gigantische Rechtfertigungsindustrie gebildet mit einer enormen Selbsterhaltungsschwere. Nur, die Ergebnisse sind nicht besser geworden, lediglich die Techniken der Euphemisierung und Postrationalisierung haben ungeahnte Höhen der Verfeinerung erklommen. Jeder Insider weiß, kämen die Karten auf den Tisch, flöge der Bluff sofort auf. Ein Siebenerpärchen, wie putzig! Der Dilettant mit der dicken Hose muss die Runden bezahlen wenn er mitspielen will. Der Spielverlauf, mit dem er sowieso nichts zu tun hat, übersteigt allerdings seinen Verständnishorizont.

An Google Wave und dem Apple tablet können alle Technikfreunde verfolgen, wie heutzutage Marken entstehen. Die Antwort lautet nicht: “Über’s Internet”. Alte Medienkanaldenke! Das Internet, was soll das sein? Durch die Luft reist der Schall, durch den Äther das Licht. So erhellend wie diese Informationen für das Verständnis von Radio, Zeitung und Fernsehen sind, so schlau ist die Antwort “Internet” zur Erklärung dessen, was sich in unserem Zugang zur Welt in den letzten 15 Jahren verändert hat. Die Condition Humaine ist heute eine andere. Der Blogger aus Teheran, dessen RSS-Feed ich abonniert habe, hat JETZT auf seine Maus geklickt, wenn ich seinen Post lese. Die englische Teefirma, der ich auf ihre Twitter-Frage, was ihre Kunden sich von ihrer neuen Website wünschen, geantwortet habe, sie möge doch bitte auf Flash verzichten, muss sich nun ernsthaft damit auseinandersetzen; und vielleicht sogar meinem Link zu meinem Blogpost folgen, in dem ich nachweise, warum Flash konträr zu allen Prinzipien der Netzgesellschaft steht. Als Gegenleistung für ernsthafte Dialogbereitschaft und das Absehen von Bespaßungsüberflutungen aus der Marketingabteilung bin ich vielleicht bereit, nächstes Mal wieder zu ihrem Tee zu greifen.

Die Zeiten sind so toll, man kann sogar nicht Marke machen. Wenn man einfach nur Qualität kann, dann war es noch nie so einfach wie heute, ein glänzendes Geschäft zu machen. Viele, die immer noch glauben, eine tolle Marke zu sein, sind heute längst in diesem Gewerbe und es geht prächtig. Von Dr. Oetker und Melitta bis zu Maggi und Knorr; und was war nochmal der Unterschied zwischen Panasonic und Medion?

Und wenn man keinen Ehrgeiz zur Marke hat, kann es einem trotzdem passieren, eine zu werden. Anything goes, ist doch toll.

Marken ‘machen’, sie ‘positionieren’, ‘steuern’, ‘bilanzieren’ als ‘intangible asset’, die Marke als Kronjuwel eines Unternehmens – das ist ja alles längst im Modernen Antiquariat der Businesshypes, zusammen mit Six Sigma und der Balanced Scorecard. Und seit die Frau des Vorstandsvorsitzenden das Malen für die Charity aufgegeben hat und seine Kids nicht mehr vor dem Fernseher sondern in der World of Warcraft leben, kann man auch wieder unbehelligter seine Arbeit machen. Wie erhöhe ich möglichst nachhaltig die Kaufhäufigkeit meines Produkts zu einem Preis, bei dem was hängen bleibt? Nie gab es so viele Antworten auf diese Frage. Und nur eine davon heißt Marke.

Wenn man aber den Markenweg gehen will, Kundschaften haben will und nicht bloß Käufer, begehrt werden will und nicht bloß gegriffen, dann muß man dem alten Marketing abschwören und beginnen, hinzusehen und zuzuhören.

Es gibt ein Buch über ‘Consumer Insights’ von Jane Fulton Suri, das völlig ohne Text auskommt. Es hat den Titel ‘Thoughtless Acts’ und besteht nur aus alltäglichen Schnappschüssen, an denen die Designer der Agentur IDEO das Sehen lernen sollen. Was sehen wir in einem öffentlichen Papierkorb, auf dem Passanten in einer perfekt ausgerichteten Reihe leere Kaffeebecher abgestellt haben? 1. den Beweis, dass der Mensch mit einem natürlichen Empfinden für Harmonie und Ästhetik ausgestattet ist, und 2. ein Briefing für bessere Papierkörbe.

Es gibt viele Wege, die Bedürfnisse und Probleme von Menschen zu erkennen, zu verstehen und zu lösen. Nur, keiner davon kommt im heutigen Kanon des Marketing vor.

2. Marketing nach dem Marketing

Nach dem Marketing wird es den Marken besser gehen. Das Marketing hat sich auf allen Gebieten widerlegt. Trotzdem müssen wir auch morgen wieder Marketing machen. Aber anders. Natürlich gibt es kein Zurück. Die Flasche ist leer.

Fast zwanzig Jahre ist es her, es war 1991, als ich mit dem frischen Psychologiediplom in der Tasche meinen ersten Job bei der großen Werbefirma in Hamburg antrat. Zum ersten Mal in meinem Leben saß ich in einem Flugzeug, wie damals üblich in der Business Class. In einigen Sitzreihen erloschen in jenen Tagen noch die Rauchverbotssymbole nach Erreichen der Reiseflughöhe und reflexartig wurden Marlboroschachteln gezückt und Duponts oder Zippos schnappten auf. Es gab eine kalte Mahlzeit und zum Schluß noch eine Süßigkeit von Leysieffer auf einem ganz normalen Inlandsflug. Hinter der letzten Reihe hatten die Stewardessen die Pappentaschen gestapelt, der frühe Flieger aus Hamburg war wieder voll mit Werbern auf dem Weg zu ihren Präsentationen. Ganz Deutschland, so schien es, würde heute wieder in “Konfis” sitzen, die immer gleiche Bahlsenkeksmischung in der immer gleichen Reihenfolge knabbern, pechschwarzen Kaffee schlürfen, formschöne Aschenbecher vollrauchen und in Pappenschlachten ironische Florettgefechte schlagen.

Ich selbst sollte heute aber erstmal ein Briefing bekommen. Die Etatdirektorin, an deren Seite ich reiste, hatte die diplomatische Rolle, es formal entgegenzunehmen. Meine Aufgabe als “Planner” war es, das Briefing zu ‘hinterfragen’. “Trüffelschweine” nannte meine Chefin unsere Truppe von Berufshinterfragern. Unsere Aufgabe war das Freilegen des Verborgenen hinter dem Offensichtlichen. Unsere Trüffel waren heimliche Kaufmotive, erschnüffelt aus mehrdeutigen Sätzen, die Verbraucher in Gruppendiskussionen fallen ließen ohne sich etwas dabei zu denken, oder aus unentdeckten Mustern in den Zahlenteppichen der Haushalts- und Handelspanels und Werbetrackings. Heute bekamen wir also ein Briefing und ich hatte dafür zu sorgen, dass wir mit ausreichend Datenmaterial versorgt waren, um hinter der offensichtlichen die originelle Werbeidee herauskitzeln zu können. Eine Werbeidee, die die Menschen bei ihren unbewussten Trieben packte und Begierden auslöste, die die rationale Selbstkontrolle unterliefen. Das war das Paradigma des Marketing damals (und für viele ist es das bis heute geblieben), dass nichts Offensichtliches wirklich ursächlich sein konnte und dass es tiefblickender Experten wie uns Plannern bedurfte, um Produkte an Kunden zu bringen.

Das Briefing ging damals seinen gewohnten Gang. Ich fragte ein bisschen und redete schlau. Wir verordneten dem Markenmanager noch einige Gruppendiskussionen zur Gewinnung von ‘Consumer Insights’, wie wir unsere Trüffel nannten. Der Käse bekam seinen ‘Creative Brief’ von mir, der die Aufgabenstellung des Kunden in ein kleines psychologisches Schlüssel-und-Schloss-Dramolett für unsere Kreativen übersetzte: schaut, hier klafft eine Lücke im Glück der Zielpersonen; doch seht, dort kommt das Markenprodukt und füllt sie. Ich war “Akrobat Schööön”, Beglücker der käseverzehrenden Nation durch einen simplen psycho-logischen Trick. Und bequeme 8 Wochen später hatten auch wir die Pappentasche dabei, als wir wieder im frühen Flieger saßen. Die Kampagne zum Käse wurde in ARD, ZDF, RTL und SAT1 zu den besten Sendezeiten ausgestrahlt, woraufhin sich der Marktanteil pflichtschuldig erhöhte und wir uns neuen Feldern der Trüffel und der Ehre zuwenden konnten. Der Markenmanager wurde in der Branchenklatschpresse gefeiert, bald befördert, und wenn er nicht gestorben ist, dann ist er heute CEO, Geschäftsführer oder General Manager eines anderen Markenartikelunternehmens.

An diesem Bild ist so gut wie nichts mehr richtig, angefangen beim eleganten Florettstil des Marketingalltags, der rüder Säbelhauerei gewichen ist. Dutzende Kostensenkungsprogramme und Marketing Accountability-Initiativen später stehen wir in einem Splitterhaufen aus segmentierten und subsegmentierten Zielgruppen und fragmentierten Medien und müssen konstatieren, dass das Marketing kaputt ist. Zerrüttet ist die Beziehung zum CEO, zu dessen Rechter einst der Marketingchef seinen Platz hatte und leis in sein Ohr tuschelte;bausgewechselt ist das Schloss am Budgetschrank, den die Marketingzauberworte einst wie Sesam öffneten. Zauberworte, deren Zauber verblasst ist, ja, deren schiere Bedeutung sich in Luft auflöst.

Gewohnheitsmäßig sprechen wir noch von “Zielgruppen” – doch sie sind längst auseinandergestoben. Wo einst “die 29 bis 49jährigen berufstätigen Frauen in 2-Personen-Haushalten mit einem Haushaltsnettoeinkommen über 3.000 im Monat” wie eine sinnvolle Planungsangabe erschienen, da sie statistisch gesicherte Rückschlüsse auf das Kaufverhalten und die Mediennutzung zuließ; da mußten wir bald mit psychographischen Merkmalen, sozialen Milieus, Kohorteneffekten, Lifestylesegmenten, Peer Groups, Netzwerken immer weitere Schnitte durch den Kuchen legen. Heute stehen wir vor einem Haufen Kuchenkrümel, nennen es “Audience of One” oder “Zielgruppe N=1”, und verordnen uns als Lösung das “One-to-One Marketing” – eine hanebüchene, paradoxe Idee, die das Marketing paralysiert; weil doch die Existenzberechtigung des Marketing ganz aus dem Hebeleffekt des One-to-Many bezogen ist.

Wir bemühen auch immer noch gern die “Marktforschung” – aber sie ist und bleibt ohne Gewähr. Ob plötzlich veränderte Marktbedingungen, eine zu geringe Fallzahl, ein Nichtbefolgen der Methodenempfehlung des Befragungsinstitus oder ein Artefakt der Antwortskala, das durch “Normalisierung” der Rohdaten hätte aufgehoben werden können – das Buch der Ausreden der Marktforschung, warum ihre Voraussagen mal wieder nicht eingetroffen sind, ist dick. Das Versagen der Marktforschung ist einer der großen Skandale – aber nur eine von zahlreichen Geldvernichtungsanlagen – des modernen Managements. Natürlich darf man eine Multimilliardenindustrie nicht unterschätzen, ihre Rechtfertigungsbeauftragten und deren Methodenarsenal sind hochprofessionell und selbstverständlich juristisch wie moralisch unangreifbar. Doch man sollte sich stets vergegenwärtigen, dass hinter jeder großen Forschungsstudie zwei Menschen stehen: ein Befrager, der das Interview so schnell wie möglich beenden will und an den Antworten nur insofern interessiert ist, als sie ihn mit geringstmöglichem Aufwand an dieses Ziel bringen; und ein Befragter, der wie wir alle das Gesellschaftsspiel ‘Markt- und Meinungsforschung’ kennt, das geheuchelte Interesse an seiner Person und Meinung auskostet, und dafür sogar die semantisch sinnlosesten Fragen gern beantwortet. “Wenn Sie jetzt mal die Zubereitungshilfen für Nudelgerichte von Knorr mit denen von Maggi vergleichen, würden Sie mir bitte sagen, ob folgende Aussagen eher auf die Marke Knorr oder eher auf die Marke Maggi zutreffen: 1. ist innovativ; 2. entspricht einem jungen, spontanen Lebensstil …” Undsoweiter undsofort.

Und in jedem richtigen Marketingdokument bildet den dramatischen Höhepunkt, tata!, die Enthüllung des “Benefits” – und immer ist er eine Übertreibung. Ob “Unique Selling Proposition” oder “Single-Minded Promise”, “Key Benefit” oder auch “Competitive Advantage” – die meisten Produkte und Marken haben, wenn wir ehrlich sind, nichts, was diese Bezeichnung verdient, oder? Werden nicht alle Markenartikel unter den gleichen Produktionsbedingungen, aus den gleichen Rohstoffen und manchmal in den gleichen Fabriken hergestellt, mit den gleichen Methoden auf Verbraucherzuspruch getestet und in die gleichen Verpackungen abgefüllt? Evonik wirbt für seine Chemiesparte mit dem Argument, dass seine Superabsorber gleichermaßen in den Windeln von Procter & Gamble und Kimberly-Clark das Pipi aufsaugen – den zwei großen Duellanten im weltweiten Wettbewerb um den trockenen Babypopo. Und schon vor vielen Jahren begannen Automobilhersteller, über Marken- und Konzerngrenzen hinweg gemeinsame Fahrzeugplattformen zu entwickeln. Also sind die Produkte längst alle gleich und können nur noch durch clever erdachte, pardon: tiefenpsychologisch erschnüffelte, emotionale Benefits differenziert werden?

Falsch. Wir sind nur häufig betriebsblind für das, was ein Produkt für seine Käufer wirklich ausmacht. Entgegen landläufiger Gerüchte, die vor allem von Marketingfachkreisen geschürt werden, gibt es keine zwei wirklich austauschbaren Angebote. Wir sind nur meist zu clever, zu tiefschürfend, zu größenwahnsinnig, um den entscheidenden Unterschied zu sehen. Wir suchen die tiefenpsychologische Satisfaktionsquelle, wo vielleicht das Zischen beim Öffnen der Verpackung das Interessante ist. Wir suchen nach etwas, das unsere Marke “head and shoulders above the crowd” stellt (in den späten 90ern eine beliebte Formulierung in Briefings von Procter & Gamble); für einen solchen Anspruch aber sind die meisten realen Differenzierungsmerkmale zu banal, zu mickrig, zu … konkret.

Ich erinnere mich, wie wir einmal die Esser von Butterkeksen in der Zange unserer tiefenpsychologischen Trüffelschweininstrumente hatten und viel Bedeutung in die Gewohnheit vieler Leute und Kinder legten, erst die Zähne des Kekses abzunibbeln, bevor sie richtig zubeissen. Unsere tiefschürfenden Erkenntnisse erwiesen sich als nutzloses Wissen. Wir hatten den entscheidenden Punkt zwar entdeckt, dann aber zu Brei interpretiert. “Nur echt mit 52 Zähnen” wurde der Claim – denn es ging um die Abwehr von Handelsmarken. Kurze Zeit später wurde das Ganze dann in eine Qualitätskampagne ummontiert unter dem Motto “knackfrisch mit 52 Zahnen”. In Wirklichkeit ging es damals wahrscheinlich schon darum, den Kekskäuferinnen durch die Blume zu sagen: “Bist du etwa so eine Rabenmutter – oder sozialer Bodensatz – , dass du deinem Kind noch nichtmal richtige Butterkekse kaufen kannst?!”

– Ebenso wie diese drei, lösen sich die meisten Instrumente, Konzepte, und nicht zuletzt die Träume des Marketing in Luft auf. Und man muß nur die klassischen “vier P” des Marketing betrachten, um zu erkennen, wie das Terrain und die Bedeutung des Marketing schrumpfen: Product, Price, Place, Promotion.

Das Produkt, dessen Neu- und Weiterentwicklung noch vor zehn Jahren kurz davor schien, vollends in die Hände des Marketing als des Kundenexperten gelegt zu werden, wird mehr denn je von Technologie getrieben. Wir haben gerade das Jahrzehnt vollendet, in dem die “Nerds” aus ihrem introvertierten Dasein als Kellerasseln der Wirtschaft herausgetreten sind und als Leitidole die Nachfolge von Supermodels, Investmentbankern und, eben, Marketingleuten angetreten haben. “Programmierer”, ganz gleich ob von iPhone Apps, Nukleotidketten oder Fertigsuppengeschmackssymphonien, sind die aktuellen Helden der Ökonomie. Und sie schalten sich direkt mit dem Kunden zusammen, unter Umgehung des Marketing.

Der Preis ist heute ein zu nervöses Ding, als dass er sich wirklich “managen” ließe. Einst konstanter Orentierungspunkt für den Verbraucher, begann er sich im zunehmenden Wettbewerb der Händler zu bewegen. Zunächst in berechenbaren Wellen. Inzwischen aber haben Preise das Beharrungsvermögen subatomarer Teilchen. Kein Hersteller weiß heute wirklich, mit welcher Zahl auf dem Bauch sein Produkt in diesem Moment gerade vorm Kunden steht. Auf der einen Seite legen ihm dedizierte Fachabteilungen und Unternehmensberater in komplexen Analysen auseinander, wo die perfekte Balance zwischen Deckungsbeitrag und Kaufbereitschaft zu finden ist. Auf der anderen Seite presst ein Kunde gerade mit dem “Bargainfinder” auf seinem Smartphone aus dem Filialleiter eines Supermarkts 20 Cent Nachlass auf den mühsam erkämpften “Dauerniedrigpreis” seines Produkts heraus. Den Preis als strategisches Marketinginstrument gibt es also nur noch in den Lehrbüchern der Business Schools.

Der ‘Place’, also die Distribution und Platzierung des Produkts, bietet ebenfalls ein anderes Bild als in den frühen 90ern. Mit der Einführung der Scanner begann damals ein ungeheurer Datenstrom zu fließen, für den der Handel zunächst keine bessere Verwendung zu haben schien als ihn an die Markenartikler zu verkaufen, die ja ganz vernarrt in Zahlen Daten Fakten waren. Inzwischen aber machen sie selbst den radikalsten Gebrauch davon, um jeden Regalmeter auf Umsatz und Drehgeschwindigkeit zu optimieren. Und ihnen ist außerdem klargeworden, dass sie näher am Kunden stehen als die Lieferanten mit ihrer Marktforschung. Deshalb gibt es heute keinen Zweifel mehr daran, dass es der Handel ist, der die Regeln macht. Neue Produkte müssen sich innerhalb weniger Wochen beweisen, sonst werden sie gleich wieder ausgelistet. Für jedes neue Produkt muss ein altes weichen, denn mehr Regalfläche gibt es nicht – oder nur gegen hohe Gebühren. Die Platzierung in Augenhöhe ist immer häufiger den Handelsmarken vorbehalten. Immer häufiger mischt sich der Einkäufer sogar in die Markenführung ein. Machen Sie doch mal was mit Cranberry. Das hat Ihr Wettbewerber XY gerade eingeführt und läuft sehr gut. Wir haben uns das bei 1,19 Euro EVP vorgestellt. Das Produkt hätten wir dann auch gerne für unsere gehobene Naturkosteigenmarke “Sonnengarten”, und zwar mit Calciumzusatz. Wir garantieren 2 Millionen Liter bei 53 Cent.

Bleibt schließlich die ‘Promotion’, sprich: Werbung. Die Königsdisziplin des Markenartiklers, Kernkompetenz und Sahnestückchen im Leben des Marketingmanns alter Schule – pardon, meine Damen – und seines siamesischen Zwillings von der Lead Agency. In der Tat ist für die meisten Markenartikler die gekaufte Massenkommunikation nach wie vor der Motor ihres Geschäfts. Wie in der Petroleumökonomie, die ja auch längst nicht zuende ist, gelten hier noch die Regeln testosterongetriebenen Wirtschaftens. Man hat ein Gaspedal und Hubraum – je mehr, je besser – und beschleunigt unter orgiastischer Abfackelung knapper Ressourcen – dort Öl, hier Budget, vulgo: Geld – dem Horizont entgegen. Und aus dem Auspuff sprüht ein Funkenregen aus Big Ideas, scharfen Bräuten und wodkabedingten Filmrissen im Groucho Club oder auf dem Dreh in Kapstadt. Wie Jungs eben so sind.

Dass der Motor der “klassischen Werbung” oder dessen, was in heutigen Marketingplänen unter ATL firmiert, stottert und erheblich an Traktion verloren hat, ist zwar schon lange bekannt. Aber wo sind die Alternativen? Echte Kerle können doch nicht mit dem Bus fahren.

Was uns zu den platzenden Träumen des Marketing bringt. Dass solche Weicheier wie Larry Page und Sergej Bryn, die Gründer von Google, jetzt die Herren des Universums sein sollen, ist schlimm genug und eine weitere in der Reihe der Kränkungen der männlichen Menschheit. Und so überrascht es nicht, dass die Heerschar rapide wächst, von investigativen Reportern bis zu Kartellbehörden, die nachzuweisen versucht, dass die zwei in Wirklichkeit gar nicht so gut und soft sind, sondern harte Eier und einen finsteren Plan haben.

Doch damit nicht genug. Was in letzter Zeit aus dem guten alten Streben nach Macht, Geld und Ruhm geworden ist, raubt einem Manager alten Schlages wirklich die Lust am Arbeiten. “Wachstum”, “Führung” (sprich: Leadership), Wettbewerb, Kreativität – ist alles nur noch ein Schatten seiner selbst. Credit Crunch und Kopenhagen (sprich: Nopenhagen) haben weitere Nägel in den Sarg des einst so noblen Männersports “Managen” gehämmert.

Schon werden Unternehmen, ja ganze Industrien, auf den Modus des “Defensivwirtschaftens” umgeschaltet, zu emissions- und spaßfreien Passivhäusern umgebaut. Man nehme als Beispiel die Deutsche Telekom. Seit die internen Strategieplaner den Vorstand vor etwa 5 Jahren mit einem Szenario des Telekommunikationsgeschäfts konfrontierten, das aus einer nach unten beschleunigenden Kurve bestand, fährt die Telekom einen Kurs des Abwartens. Zur “dummen Röhre”, die nur noch die Mehrwertdienste von Google, Facebook oder Skype gegen hauchdünne Margen durchleitet, wird man noch früh genug. Anstatt also aktiv an einem neuen Geschäftszweck für die Telco zu arbeiten und endlich einen angemessenen Anteil an den exorbitanten Gewinnspannen an den Kunden weiterzureichen, heißt die Devise: mitnehmen was wir kriegen können und nur nicht die Initiative ergreifen. Nun startet man eine Nachhaltigkeitskampagne, um das Versagen auf dem eigentlich viel relevanteren Schauplatz Service zu verschleiern, der doch essenziell wäre, um den Kundenbestand so lange wie möglich halten zu können. In einem solchen Hause, in dem Worte wie “Wachstum”, “Erfolg” oder “Zukunft” nur ein trauriges Lächeln auslösen, hat Marketing höchstens noch eine betriebstherapeutische Funktion. Ja, wir sind gut, auch wenn wir wieder 2 Millionen Kunden verloren und zehntausend Kollegen sozialverträglich in ihren weiteren Lebensweg entlassen haben. Schließlich konnten wir trotz sinkender Umsätze den Gewinn sogar leicht erhöhen. Ist das das Wirtschaften der Zukunft, das wirklich wahre Leben an der Grenze des Wachstums?

3. Die Marke nach dem Marketing

Warum wird es den Marken nach dem Marketing besser gehen? Eigentlich blüht den Marken eine glänzende Zukunft. Sie sind die gesellschaftlichen Knotenpunkte, um die herum Menschen sich scharen, Netzwerke bilden, Bewegungen formieren, und an denen sie – nicht nur, aber auch – ihre Konsummuster ausrichten. Diese Netzwerke werden über die Grenzen des Unternehmens hinweg – und über Ländergrenzen ohnehin – Menschen miteinander verbinden. Zu denen gehören neben den Kunden genauso die Mitarbeiter und auch die Investoren; alle miteinander verbunden durch die gemeinsame Leidenschaft für eine Sache, für die die Marke steht.

Solche Marken aber “baut” man nicht mit dem Marketing von heute. Diese Marken funktionieren nicht psycho-logisch, sondern sozio-logisch. Diese Marken sind keine Trojanischen Pferde (um die Metapher von Jung von Matt zu bemühen) oder silbernen Pistolenkugeln, die mit subtilen Botschaften am rationalen Zensor des Individuums vorbei mit einem kleinen Männchen in unserem Unterbewusstsein in Kontakt treten wollen. Sondern es sind Marken, die ihre faktischen Stärken – und auch ihre Schwächen – öffentlich zur Debatte stellen.

Wenn die Grenzen zwischen Markeninnen- und -außenraum verschwinden, das Trüffelschwein-Paradigma aufgegeben und die Kommunikation zu einem offenen, direkten und ehrlichen Dialog wird, dann macht es aber keinen Sinn mehr, eine Instanz genannt Marketing zwischenzuschalten, die ja nur als Kommunikationsschnittstelle zwischen Innen und Außen existiert. Wenn die Entwickler eines Produkts sich mit den Kunden direkt auseinandersetzen können, brauchen sie keinen Moderator mehr.

Voraussetzung dafür ist aber ein robuster Markenkern. Nicht die Sorte luftgefüllter Positioning Statements, die aus den heute üblichen wörterzermahlenden Gremiendiskussionen herauskommen. Das Ergebnis des letzten großen kollektiv-semantischen Geburtsvorgangs, an dem ich mich beteiligen durfte, lautete etwa: “Sharing Memorable Moments”. Nein, es ging nicht um Fotoalben oder Videokameras, sondern um ein Telekommunikationsunternehmen.

Aus der Vogelperspektive zentraler Verwaltungseinheiten hat man eben den Blick für das große, meist banale Ganze, sucht man das Gemeinsame, den roten Faden. Aber nicht für jenes Detail, das begeisterte Kunden und leidenschaftliche Ingenieure miteinander verbindet.

Ergibt sich die entscheidende Frage: Wie “führt” man Marken in dieser Zukunft ohne Marketing, man kann sie doch nicht nicht managen, einfach laufenlassen? Die erste Antwort darauf lautet: Marken führen zu wollen, ist ohnehin eine Illusion. Eine Marke ist ja ohnehin nur ein Epiphänomen, das mit der Zeit entsteht, wenn Kunden mit einem Namen eine längere Reihe angenehmer Produkterfahrungen verbinden. Man kann eine Marke, die die Bezeichnung verdient, nicht durch Werbung aufbauen und auch nicht durch eine clevere Web 2.0- oder Word-of-Mouth-Strategie. Die Marke ist das kumulative Ergebnis begeisternder Produkt- oder Serviceleistungen vorm Kunden.

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